Pandemie-Ursprung: Was wir bisher wissen und was nicht
Red. – «Sars-CoV-2 stammt vermutlich von Wildtieren», berichteten diverse Medien jüngst mit Berufung auf eine neue Studie (Infosperber berichtete). Dazu nimmt Mark Woolhouse nun Stellung. Der Autor dieses Gastbeitrags ist Professor für Epidemiologie für Infektionskrankheiten an der Universität Edinburgh. Sein Artikel erschien zuerst bei «The Conversation». Infosperber veröffentlicht die deutsche Übersetzung (Titel, Vorspann und Zwischentitel von der Redaktion).
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Der Streit über den Ursprung von Covid war schon immer sehr lebhaft, aber inzwischen gleicht er mehr einer Schlägerei als einer wissenschaftlichen Debatte.
Nach Ansicht einiger Experten entstand die Corona-Pandemie auf dem Markt für lebende Tiere in der chinesischen Stadt Wuhan. Andere halten dagegen: Sars-CoV-2 (das Virus, das Covid verursachte) sei aus einem nahe gelegenen Labor entwichen, das Forschung mit ähnlichen Viren betrieben hat. Beide Szenarien sind plausibel.
In jüngster Zeit haben sich die Vertreter der [Tier-]Markthypothese sehr lautstark zu Wort gemeldet. Im anonymen Leitartikel einer führenden medizinischen Fachzeitschrift war im August die Rede von der «Hybris, die nötig ist, um alternative Hypothesen zu verfechten», und von «fantasievollen Ideen, die besser in triviale Spielfilme passen».
Ein Kommentar in einer anderen Zeitschrift beklagte, Wissenschaftler würden schikaniert, wenn sie die Hypothese eines Laborunfalls ablehnten. Mit atemberaubender Scheinheiligkeit attackierte derselbe Kommentar dann aber eine Nachwuchswissenschaftlerin, welche die Laborhypothese vertritt, indem er ihre Argumentation als «Mutmassungen, Korrelationen und Anekdoten» abkanzelte.
Merkwürdigerweise keine Proben, bevor der Markt in Wuhan geschlossen wurde
Es besteht zumindest Einigkeit darüber, dass auf dem Markt von Wuhan das Virus zu finden war. Proben, die Anfang Januar 2020 von Marktständen und Abflüssen genommen wurden, enthalten genetisches Material von Sars-CoV-2. Die Zeitschrift «Cell» veröffentlichte kürzlich eine Analyse dieses Materials, die zeigen soll, dass die Viren auf dem Markt und die Viren der Pandemie beide von einem gemeinsamen Ursprungs-Virus abstammten.
Das klingt überzeugend, bis man realisiert, dass all diese erst Proben Wochen nach Beginn der Pandemie genommen wurden, und dass keine einzige von einem lebenden Tier stammte. Merkwürdigerweise wurden auch keine Proben genommen, bevor der Markt geschlossen und die Tiere vernichtet wurden. Vor allem aus diesem Grund halten die meisten Kommentatoren, ich eingeschlossen, die jüngsten Ergebnisse für hinweisend, aber nicht endgültig.
Es ist ein Problem, dass keine Proben von Tieren vorliegen. Niemand glaubt daran, dass das Virus in Wuhan selbst entstanden ist. In der Natur kommen Sars-ähnliche Coronaviren bei Hufeisenfledermäusen vor, doch im Umkreis von 1500 km um Wuhan wurden keine infizierten Kolonien gefunden.
Die Viren, die auf dem Markt gefunden wurden, müssen also von irgendwoher dorthin gebracht worden sein. Aber in den Lieferketten der dort verkauften Tiere war kein Sars-CoV-2 zu finden.
Vielleicht hat nicht ein Tier, sondern ein Mensch Ende 2019 das Virus auf den Markt gebracht? Das ist durchaus möglich. Viele Viren, die der Ursprungsvariante sehr ähnlich sind, stammten von Menschen ohne jegliche Verbindung zum Markt von Wuhan. Einige, darunter ein Cluster aus der Provinz Guangdong, stammten nicht einmal aus Wuhan.
Ein plausibler alternativer Infektionsweg
Trotz der vielen Ungewissheiten und unbeantworteten Fragen wäre es viel einfacher, die Markthypothese zu akzeptieren, wenn die Pandemie 2020 in einer der hunderten (oder möglicherweise tausenden – das scheint niemand genau zu wissen) anderen chinesischen Städte mit ähnlichen Märkten begonnen hätte.
Auch das ursprüngliche Sars-Coronavirus ([Sars-CoV-1 – Anm. d. Red.], ein sehr naher Verwandter von Sars-CoV-2) brach 2002 auf einem Markt aus, wo Zibetkatzen und andere Tiere verkauft wurden, zufälligerweise in Guangdong.
Das Epizentrum der Covid-Pandemie lag jedoch weniger als 20 Kilometer entfernt von Chinas führendem Coronavirus-Forschungszentrum, dem Wuhan Institut für Virologie. Dies ist ein aussergewöhnlicher Zufall, und um ihn nicht abzutun, bräuchte man zwingende Beweise dafür, dass der Markt die Quelle war (oder dass das Labor es nicht war). Die vorhandenen Beweise reichen dafür nicht aus.
Davon abgesehen, gibt es keinen Beweis – jedenfalls keinen, den die Behörden in China mitgeteilt haben –, dass Sars-CoV-2 im Wuhan Institute für Virology präsent war. Obwohl dort eng verwandte Viren vorhanden waren, können wir es nicht genau wissen.
Wissenschaftler des Instituts gingen auf Coronavirus-Jagd in Orten wie Guangdong. Auch Wissenschaftler des Wuhan Center for Disease Control and Prevention, das nur fünf Gehminuten vom Markt entfernt ist, unternahmen entsprechende eigene Expeditionen. Damit gibt es einen offensichtlichen und plausiblen alternativen Weg zum ersten menschlichen Infektionsfall.
Als Verschwörungstheorie abgetan
Doch schon im März 2020 wurde die Idee, ein Labor könne mit dem Ausbruch der Pandemie irgendetwas zu tun haben, mit sehr dürftigen Belegen als Verschwörungstheorie abgetan.
Vor zwei Jahren behauptete einer der schärfsten Verfechter der Markthypothese, er habe durch seine Forschungen «die Idee, das Virus sei aus einem Labor entkommen, endgültig zu Grabe getragen». Ein Autor der neuen Analyse in «Cell» nennt alternative Erklärungen «fantasievoll» und «absurd».
Wen soll dieser ganze Pomp überzeugen? Nicht die Wissenschaftler, die Forschungsarbeiten lesen können, Gegenargumente zur Kenntnis nehmen und sich ihr eigenes Urteil bilden können. Nicht die Politiker, die eine ideologische Haltung zu diesem Thema eingenommen haben, insbesondere in den USA. Auch nicht die Geheimdienste, von denen viele glauben, sie seien unsere grösste Hoffnung, um die Wahrheit herauszufinden.
Ich beschäftige mich seit 25 Jahren mit den Ursprüngen menschlicher Viren, aber auch nach der Überprüfung aller Fakten weiss ich immer noch nicht, wie die Covid-Pandemie begann. Ich weiss aber, dass diese Frage wichtig ist, und dass die Diskussion darüber gefördert und nicht unterdrückt werden sollte.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Dieser Artikel erschien in englischer Sprache bei The Conversation». Mark Woolhouse erhält finanzielle Unterstützung von der Europäischen Union und dem Wellcome Trust. Er ist Mitglied des ständigen Ausschusses der schottischen Regierung für Pandemievorsorge und hat die schottische und die britische Regierung sowie die WHO in Fragen der Pandemievorsorge und -bekämpfung beraten.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.